Dialog mit Russland: Inklusion und berufliche Bildung
Die Teilhabe möglichst aller Menschen am Arbeitsmarkt ist ein wichtiges Thema in der beruflichen Bildung – und das nicht nur hierzulande. Russland möchte die Ausbildungsmöglichkeiten für Menschen mit Beeinträchtigungen verbessern. Eine Studienreise in Deutschland brachte Inspiration für die nächsten Schritte.
Wie funktioniert Inklusion in der dualen Ausbildung in Deutschland? Wie werden Menschen mit Behinderung in ihrer Ausbildung gefördert? Vor welche Chancen und Herausforderungen stehen Ausbildungsbetriebe im Arbeitsalltag? Um diese Fragen ging es bei einer fünftägigen Studienreise im Dezember 2019. Teilnehmer der Studienreise waren russische Expertinnen und Experten aus zehn Regionen des Landes, die sich unmittelbar mit der Durchführung und Qualitätssicherung beruflicher Ausbildung für Menschen mit Behinderungen befassen. Ziel der Studienreise war es, Inspiration für eigene Ansatzmöglichkeiten in diesem Thema zu gewinnen.
Den Auftakt stellte ein Besuch im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) dar. Professor Dr. Hubert Esser begrüßte die Delegation und skizzierte die Wichtigkeit der Integration von Menschen mit Behinderungen in den ersten Arbeitsmarkt mit einer soliden Berufsbildung.
Fachliche Impulse brachten weitere Vorträge im BIBB. Kirsten Vollmer, Leiterin der BIBB Stabsstelle "Berufliche Bildung behinderter Menschen“ und Jürgen Hollstein, Kuratorium der deutschen Wirtschaft für Berufsbildung, berichteten der Delegation von der Zusammenarbeit der Wirtschaft im Bereich Inklusion. Sie verwiesen insbesondere auf die Rolle des Ausschusses für Fragen behinderter Menschen (AFbM).
Ali Atak, IHK-Bonn, beschrieb die Rolle der Kammer und Beratungsangebote für Unternehmen in Fragen der Inklusion und Fachkräftegewinnung. Sehr beeindruckt zeigten sich die Expertinnen und Experten von den authentischen Schilderungen des beruflichen Werdegangs zweier Mitarbeiterinnen mit Behinderungen im BIBB. Thomas Borowiec, Beauftragter für Menschen mit Schwerbehinderungen im BIBB und Ausbildungsleiter[BL1] , beschrieb die Herausforderungen und Fragen im Ausbildungsprozess. Der Delegation wurde deutlich, dass Teilhabe, Flexibilität und Teamfähigkeit entscheiden sind, um die Potenziale und Talente eines jeden einzelnen abzurufen.
Im Rahmen der Reise stellte die Delegation auch die russischen Erfahrungen zum Thema „Inklusion“ vor. In Russland haben sich in den letzten 15 Jahren die beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen verbessert. Die Zahl der Einschreibungen stieg von 4.525 im Jahr 2008 auf 8.913 im Jahr 2019. Insgesamt nehmen rund 25.000 Menschen an Programmen für behinderte Menschen teil.
Die russische Regierung und insbesondere das Schulministerium, das Ministerium für höhere Bildung und Wissenschaften haben in Kooperation mit dem Arbeits- und Sozialministerium den Zugang zu Informationen, Methodologie und Abstimmung im Bereich der Berufsbildung für behinderte Menschen verbessert. In 82 von 85 Regionen haben Betroffene und ihre Angehörigen die Möglichkeit, sich in 111 entsprechenden Zentren über mögliche Ausbildungsprogramme qualitätsgesichert zu informieren. Eine besondere Motivation für Menschen mit Behinderungen ist die Teilnahme an Berufswettbewerben wie „Abilympics“ - ein internationaler Wettbewerb, an dem berufstätige oder sich in Ausbildung befindende Menschen mit körperlicher, auditiver, visueller oder geistiger Behinderung teilnehmen. Zu diesem Thema ist ein weiterer Austausch zu den Erfahrungen der russischen Kolleginnen und Kollegen geplant.
Wie Inklusion im Arbeitsalltag umgesetzt wird, wurde mit einem Blick in Betriebe deutlich, die gezielt Menschen mit Behinderungen rekrutieren.
Die Bonner GVP Gemeinnützige Werkstätten GmbH zeigten den Delegationsteilnehmenden die verschiedenen Optionen für psychisch erkrankte Menschen und ihre Integration in das Arbeitsleben. Am Nell-Breuning Berufskolleg in Bad Honnef konnten die russischen Expertinnen und Experten an einer Berufsorientierungsmaßnahme für Jugendliche mit Behinderungen teilnehmen.
In Mosbach bei Heidelberg besuchte die HWK Rhein-Neckar-Odenwald. Klaus Hofmann, Leiter der HWK Rhein-Neckar-Odenwald, führte die Delegation durch seine Möbelschreinerei. In dem Familienbetrieb gibt er Jugendlichen mit Behinderungen die Chance auf Praxisphasen im betrieblichen Alltag. Er arbeitet hierbei intensiv mit dem Berufsbildungswerk Mosbach-Heidelberg zusammen. Das Berufsspektrum des Berufsbildungswerks reicht von Gärtnerei, Tischlerei bis IT. Peter Weiser, Direktor des Berufsbildungswerks, verwies auf Projekte im Bereich der Digitalisierung und Inklusion; die Vorteile für Menschen mit Behinderungen durch technologische Entwicklungen bringen würden.
Gemeinsam fuhr die Gruppe dann zum DAX-Konzern SAP. Hier präsentierte Alexander Eckhardt, Inklusionsbeauftragter des Unternehmens, die Strategie der Anwerbung von Menschen mit Autismus. Inspiriert von den vielen Eindrücken kehrte die Delegation nach Russland zurück und arbeitet jetzt an einem gemeinsamen Projekt „Inklusion in der Berufsbildung“.
Weitere Informationen
Die deutsch-russische Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung konzentrierte sich zunächst auf drei Kernthemen: Standards, Qualität des Berufsbildungspersonals und die Zusammenarbeit zwischen Staat, Wirtschaft und Sozialpartnern. Es entstand eine Aktionslinie, die sich mit der Frage nach Inklusion von Menschen mit Behinderungen beschäftigte. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und das russische Schulministerium beschlossen im August 2019 bei ihrer letzten AG-Sitzung, das Thema zu forcieren. In der Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation reifte nach systemischen Fragen wie Standards, Qualität des Berufsbildungspersonal, Konsenzprinzip eine Aktionslinie zum Thema „Inklusion für Menschen mit Behinderungen in die Berufsbildung“ heran. Somit beschloss die bilaterale Arbeitsgruppe im Bereich der Berufsbildung zwischen dem BMBF und dem Schulministerium auf der letzten Sitzung in Kazan (August 2019) konkrete Schritte zu gehen.