Informelles Lernen in der Berufsbildung – ein bedeutungsloser Mythos?
G.R.E.A.T. Fachkonferenz an der Universität Köln
26.10.2022
Welche Rolle spielt informelles Lernen in der Berufsbildung weltweit? Internationale Forschende, Expertinnen und Experten tauschten sich in der diesjährigen Konferenz des German Research Center for Comparative Vocational Education and Training (G.R.E.A.T.) der Uni Köln zu dem Thema aus.
„There is no such thing as informal learning in VET.” Mit diesem Statement, das vom australischen Bildungsforscher Stephen Billet stammt, eröffnete Alison Fuller vom University College London bei der G.R.E.A.T. Konferenz eine lebhafte Debatte. Prof. Mathias Pilz hatte für das ausrichtende Institut für Berufs-, Wirtschafts- und Sozialpädagogik der Uni Köln die Teilnehmenden eingeladen, den ebenso gängigen wie schillernden Begriff des „informellen Lernens“ kritisch zu reflektieren. Viele Bildungsforschende, so griff Fuller in ihrer Keynote die Fragestellung auf, konzentrierten sich auf eine vermeintliche Hierarchie von Lerntypen – vom formalen Lernen im Bildungssystem als Optimum über non-formales Lernen z. B. in berufsbegleitenden Kursen bis zum informellen Lernen als Zufallsprodukt des Alltags. Viel relevanter sei es jedoch, Arbeitsplätze dahingehend zu untersuchen, ob sie Lernen förderten. „Expansive Lernumgebungen“, die das informelle Lernen durch eigene Impulse im Arbeitsprozess förderten, führten zu den größten Gewinnen für Unternehmen und Individuen, schloss Fuller aus ihrer These.
Roger Harris von der University of South Australia und Hugh Lauder von der Universität Bath gingen mit ihrer kritischen Frage nach dem Zweck der Zertifizierung und Formalisierung informellen Lernens noch einen Schritt weiter. Lauder wies zusätzlich darauf hin, dass tendenziell allgemeines – ohne die Prägung einer spezifischen Lernumgebung gewonnenes – Wissen zu höherer Mobilität der Arbeitnehmenden führe. Daher könne sich das Investment eines Unternehmens in die Allgemeinbildung leicht verflüchtigen, auch durch Abwerbung. Im Gegenzug führe spezielles Wissen dazu, dass Mitarbeitende im Unternehmen verblieben. Insbesondere wichtig sei in dem Kontext „impliziertes oder stilles Wissen“ (Tacit knowledge), z. B. Erfahrungswissen zur Ausführung eines bestimmten regelmäßigen Ablaufs oder Handgriffs. Dieses stille Wissen zu zertifizieren, sei nicht nur eine Herausforderung, sondern es müsse grundsätzlich abgewogen werden, ob eine Formalisierung zum Vor- oder Nachteil der Mitarbeitenden sei: Gegebenenfalls könnten Unternehmen dieses Wissen zur Automatisierung eines Arbeitsablaufs und damit zur Substituierung des Arbeitsplatzes nutzen.
Informelles Lernen als expansives Lernen
Die Keynotes der folgenden Tage betonten den Wert des „erlebten Lernens“. So führte Kenneth King, Emeritus der Universität Edinburgh aus, wie Neugier und freies Denken Bildungsbiographien prägen – gerade dann, wenn ihre Wege nicht exakt geplant und auf den Abschluss ausgerichtet sind. Auch die historische Sicht bestärkt, informelles Lernen nicht als nachrangig zu betrachten, sondern als das ursprüngliche menschliche Lernen anzuerkennen, das ungeachtet aller Formalisierung offenbar Fortbestand hat. Gerade im arbeitsbasierten Lernen der beruflichen Bildung, so zeigten mehrere Vortragende auf, sei die Trennung formaler, non-formaler und informeller Lernprozesse kaum trennscharf zu bestimmen. Manuel Souto-Otero (Universität Cardiff) stellte Validierungsmodelle vor, die formales, non-formales und informelles Lernen stärker in Verbindung miteinander bringen könnten, z. B. indem sich Bildungseinrichtungen des formalen Lernens stärker für andere Lernarten öffneten.
Anerkennung informell erworbener Kompetenzen
Silvia Annen, Professorin an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und ehemalige Mitarbeiterin im BIBB, untersuchte im Rahmen eines Forschungsprojektes die unterschiedlichen Mechanismen zur Anerkennung informellen Lernens beispielhaft in Kanada und Deutschland. Sie fand heraus, dass die Anerkennungsmechanismen eine doppelte Informationsasymmetrie haben: Zum einen werden seitens der Anerkennungsstellen bestimmte Kompetenzen gezielt gesucht, gleichzeitig andere vernachlässigt (screening); zum anderen müssen die Kompetenzen der Antragstellenden mit den Erfordernissen einer Qualifikationsanerkennung übereinstimmen, sie müssen proaktiv formuliert und an die Prüfstelle übermittelt werden (signalling). Dies führe im Zusammenspiel zu sehr unterschiedlichen Anerkennungsmechanismen in verschiedenen Sektoren und Ländern.
Welche Anerkennungsmechanismen andere Länder entwickelt haben, stellten Ralf Hermann und Julia Olesen von GOVET am Beispiel Südafrikas und Ghanas vor. In ihrem Vortrag verglichen sie die bildungspolitischen Ansätze zu „Recognition of Prior Learning (RPL)“ in beiden Ländern: Südafrika hat über 20 Jahre hinweg eine RPL Policy etabliert, die als Instrument der Post-Apartheid-Transformation angesehen wird. Dagegen wurde diese in Ghana erst 2021 eingeführt. In beiden Ländern wird RPL als Mechanismus verstanden, um non-formal oder informell erworbene Kompetenzen anzuerkennen und den Personen dadurch besseren Zugang zum Arbeitsmarkt oder für den weiteren Bildungsweg zu verschaffen. Dies gelingt besonders dann, wenn Validierung und Formalisierung nicht nur der Bewertung von Kompetenzen dienen, sondern in fortwährende Lernberatung und -begleitung eingebettet sind. Eine weitere Länderperspektive brachte Stefan Wolf, Technische Universität Berlin, am Beispiel Nigerias ins Gespräch. Er führte aus, dass sich informelles Lernen in der Berufsbildung in Nigeria als eine Art Kontinuum erstrecke, in dem eine Person häufig verschiedene Formalisierungs- und Strukturierungsgrade im Laufe ihres Bildungsweges kennenlerne und erlebe. Dies reiche von unstrukturierten und informellen Qualifizierungen am Arbeitsplatz über strukturierte, informelle Ausbildungen bis hin zu einem strukturierten, traditionellen Ausbildungsverhältnis. In den traditionellen Ausbildungsformaten spielen neue Ansätze der Strukturierung aber eine immer wichtigere Rolle, z. B. durch Digitalisierung. In diesem Zusammenhang stellten Léna Krichewsky-Wegener, Institut für Innovation und Technik Berlin, und Lukas Brück, GFA Consulting Group, die Ergebnisse einer Studie vor, die sie im Auftrag der GIZ Ghana durchgeführt haben. In der Untersuchung zur Verwendung digitaler Medien in Ausbildungen in der informellen (also staatlich nicht-geregelter oder erfasster) Wirtschaft Ghanas fanden sie heraus, dass eine große Bereitschaft zur Integration von Videos und weiteren Medien als Transmitter besteht.
Informelles Lernen in der Berufsbildung bleibt spannend für die Zukunft
In drei Konferenztagen mit über 50 Fachbeiträgen wurde die Vielfältigkeit, mit der das Thema informelles Lernen betrachtet und untersucht werden kann, sehr deutlich. Klar wurde auch: Der Übergang zwischen informellem und formalem Lernen ist viel fließender als manche Textbuch-Typisierungen annehmen lassen. Gerade in der beruflichen Bildung ist der Anteil informellen Lernens hoch und sehr wertvoll, da er die Lernenden mit speziellem Wissen über den Beruf, den Arbeitsplatz und das Unternehmen ausstattet.
In der Forschung sei informelles und non-formales Lernen häufig damit beschrieben, was es nicht sei, kommentierte Matthias Pilz als Organisator der G.R.E.A.T. Konferenz. Er resümierte, dass er trotz der steilen Eingangsthese, dass es kein informelles Lernen gebe, in den Diskussionen sehr wohl einen Konsens zum Vorhandensein von informellem Lernen erlebt habe – mindestens in dem Sinne, dass eine begriffliche Vertiefung und kritische Auseinandersetzung wichtig scheint. Die Teilnehmenden stimmten darin überein, die Bedeutung informellen Lernens für die Berufsbildung weiter beleuchten zu wollen.
Das G.R.E.A.T. an der Universität zu Köln
Das German Research Center for Comparative Vocational Education and Training (G.R.E.A.T.) wurde 2010 am Institut für Berufs-, Wirtschafts- und Sozialpädagogik (Lehrstuhl Prof. Pilz) der Universität Köln eingerichtet und widmet sich der komparativen Forschung, Entwicklungs- und Implementationsbegleitung sowie der Beratung in der internationalen Berufsbildungszusammenarbeit. Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) ist durch die Abteilungsleiterin Berufsbildung International Birgit Thomann im Beirat vertreten.