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Ein Vergleich der Reformen der beruflichen Bildung in Deutschland und China

Interview mit Jia Li, Technische Universität München (TUM)

Wie reagieren Berufsbildungssysteme auf Entwicklungen wie die vierte industrielle Revolution und die sozioökonomische Transformation? Jia Li, Masterstudentin an der Technischen Universität München (TUM), untersucht die Reformansätze Chinas und Deutschlands im Vergleich. Im Interview mit GOVET spricht sie über ihre Forschungsarbeit.

Die vierte industrielle Revolution (4IR) und das Aufkommen fortschrittlicher Technologien wie künstliche Intelligenz (KI), Robotik und dem Internet der Dinge (Internet of things IoT) sowie der globalen sozioökonomischen Transformation im digitalen Zeitalter, führte einer wachsenden Nachfrage nach gut ausgebildeten und kompetenten jungen Fachkräften. Berufsbildung gilt seit langem als einer der Auslöser für sozioökonomischen Fortschritt in den meisten Länder, während umgekehrt die sozioökonomische Entwicklung die Berufsbildung mitgestaltet.

Auf diese Entwicklungen reagiert die internationale Landschaft der beruflichen Bildung mit unterschiedlichen Maßnahmen und Ansätzen. Jia Li, Technische Universität München (TUM) beschäftigt sich mit tertiärer (beruflicher) Bildung, vergleichender Bildung, Bildungspolitik und -reformen. Im Rahmen ihres Masterstudiums nimmt sie die Reformen in Deutschland und China in den Blick.

Sie wird von Julia Olesen, GOVET, im Rahmen des Mentorships Programms seit 2022 betreut. In einem Interview mit GOVET spricht sie über ihr Forschungsthema.

Im Rahmen Ihres Masterstudiums beschäftigen Sie sich mit Reformen in der beruflichen Bildung und vergleichen dabei Deutschland und China. Sie analysieren, wie beide Länder ihre Berufsbildungssysteme auf Entwicklungen wie die vierte industrielle Revolution und die sozioökonomische Transformation anpassen. Welche Reformansätze beobachten Sie in Deutschland?

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben Industrieländer mit erfolgreichen Berufsbildungssystemen, wie beispielsweise Deutschland, ihr Bildungssystem als Reaktion auf den Fortschritt der Europäischen Union im Rahmen des Bologna- und Kopenhagen-Prozesses angepasst. Diese Reformen zielten darauf ab, Qualifikationen zu standardisieren, die Mobilität von Studierenden zu fördern und die Qualität und Attraktivität der europäischen Bildungssysteme weltweit zu steigern. Deutschland hat beispielsweise Maßnahmen ergriffen, um seine Berufsbildungsprogramme an den Europäischen Qualifikationsrahmen (EQF) anzupassen, um mehr Transparenz und Vergleichbarkeit von Qualifikationen in Europa zu gewährleisten. Dennoch hat Deutschland in den letzten Jahren einen Rückgang in den Ausbildungszahlen verzeichnet. Verschiedene Faktoren tragen zu diesem Trend bei, wie demografische Veränderungen, die zunehmende Präferenz für akademische Bildung und ein sich wandelnder Arbeitsmarkt. Um diesem Rückgang entgegenzuwirken, erkundet Deutschland verschiedene Strategien zur Modernisierung seines Berufsbildungssystems, mit dem Ziel es attraktiver aufzustellen. Dazu gehören moderne technologische Schulungen, die Förderung von Durchlässigkeit zwischen akademischer und beruflicher Bildung sowie die Aufwertung des Images von Ausbildungsberufen. Indem sich Deutschland diesen neuen Realitäten anpasst, will es ein robustes und anpassungsfähiges Berufsbildungssystem erhalten, das weiterhin die Bedürfnisse seiner Wirtschaft und Gesellschaft erfüllt.

Wie hat sich die berufliche Bildung in China seit Beginn des 21. Jahrhunderts entwickelt und wie hat das Land sein Berufsbildungssystem reformiert?

Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen, die sich wie China als eine der größten aufstrebenden Volkswirtschaften in der „middle-income trap“ befinden, haben ihren Fokus auf die berufliche Bildung gerichtet. Heute besitzt China eines der umfangreichsten Berufsbildungssysteme der Welt. Um sein Bildungssystem zu reformieren, wie es viele entwickelte Länder in der Vergangenheit getan haben, hat China seit 2014 begonnen, explorative Diskussionen über die Modernisierung der beruflichen Bildung zu führen und die Möglichkeiten der Aufwertung der höheren Berufsbildung auf der Ebene eines Bachelorstudiums zu erkunden. Laut dem Bildungsministerium der Volksrepublik China wurde die Einschreibungsrate für die höhere Berufsbildung erweitert, wobei in den letzten Jahren über 4 Millionen zusätzliche Studierende aufgenommen wurden. Insgesamt gab es Ende 2019 11.500 Berufsinstitutionen und über 28 Millionen Studierende (initiale Berufsbildung und höhere Berufsbildung).

Im Jahr 2022 haben die neuen Berufsuniversitäten (gleichwertig mit den deutschen Fachhochschulen) 76.300 Studierende eingeschrieben. Dies ist ein Anstieg von 84,39 % im Vergleich zum Vorjahr, während alle Institute der höheren Berufsbildung insgesamt 5.389.800 Studierende aufgenommen haben – darunter 542.900 Studierende in fünfjährigen Programmen, die auf der Ebene der Junior High School beginnen.

In einigen Regionen liegt die Mindestpunktzahlen der landesweiten einheitlichen Prüfungen für die Zulassung an allgemeinen Universitäten und Hochschulen (auch als „Gaokao“ bekannt) für die Zulassung an Berufsuniversitäten weit über der Kontrolllinie für Bachelor-Programme. Dies unterstreicht die „Renaissance“ der beruflichen Bildung in China.

Wenn Sie Reformansätze und Maßnahmen beider Länder vergleichend betrachten, welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede stellen Sie fest?

Zusammenfassend haben Deutschland und China unterschiedliche Ansätze zur Reform der Berufsbildung gewählt, die ihre einzigartigen sozioökonomischen Kontexte und Entwicklungsziele widerspiegeln. Deutschland hat die Berufsausbildung als zentralen Eckpfeiler seines Bildungssystems angenommen, wobei der Fokus stärker auf der Integration von Berufsausbildung und akademischer Bildung liegt, um hochqualifizierte Arbeitskräfte zu entwickeln, die den Anforderungen der 4IR gerecht wird. Dieser Ansatz ist tief verwurzelt im deutschen dualen Bildungssystem und betont praktische Ausbildung mit dem Ziel, ein robustes und anpassungsfähiges Berufsbildungssystem aufrechtzuerhalten, das den demografischen Veränderungen und den sich entwickelnden Bedürfnissen des Arbeitsmarktes gerecht wird. Im Gegensatz dazu hat China die Akademisierung in den Mittelpunkt seiner Bildungsreformen gestellt. Das Land hat den Hochschulsektor erheblich ausgeweitet und setzt einen starken Fokus auf höhere Berufsbildung, um ihr rasches Wirtschaftswachstum und die sozioökonomische Transformation zu unterstützen. Chinas Strategie bestand darin, die Einschreibung in höhere Berufsbildungseinrichtungen zu erhöhen, den Rahmen der beruflichen Bildung zu modernisieren und berufliche und allgemeine Bildung zu integrieren. Dies führte zur Gründung zahlreicher Berufsuniversitäten und zur Aufwertung der beruflichen Bildung auf die Ebene eines Bachelor-Abschlusses, damit Arbeitskräfte den wettbewerbsorientierten Anforderungen des globalen Marktes gerecht werden.

Beide Länder verdeutlichen durch ihren jeweiligen Fokus auf Berufsausbildung und Akademisierung die Bedeutung maßgeschneiderter Bildungsreformen, die sowohl den nationalen Bedürfnissen als auch den globalen Trends Rechnung tragen. Diese Ansätze unterstreichen gemeinsam die entscheidende Rolle der Bildung bei der Förderung des sozioökonomischen Fortschritts und der Anpassung an die Herausforderungen und Chancen des digitalen Zeitalters.

Autorenprofil

Jia Li hat einen Master-Abschluss in Europastudien und einen Bachelor-Abschluss in Englisch. Im Rahmen des Masterstudiums beschäftigt sie sich unter anderem mit höherer (beruflicher) Bildung, vergleichender Bildung, Bildungspolitik und -reformen.

Hintergrund

Der postgraduale Studiengang „Master in Vocational Education and Innovation“ wird von der TUM School of Social Sciences and Technology, Lehrstuhl für Technikdidaktik, Prof. Daniel Pittich, angeboten. Das BMBF fördert den Studiengang, der mit dem ersten Jahrgang in 2022 startete. Der DLR Projektträger ist mit der Umsetzung dieser Fördermaßnahme betraut. Der Master-Studiengang wurde als Teilzeit-Studium konzipiert und richtet sich insbesondere an Berufstätige, die Führungspositionen im Bereich der Berufsbildung bekleiden oder diese anstreben. Er vermittelt in insgesamt fünf Semestern vertiefendes Wissen zum deutschen (dualen) Berufsbildungssystem, aktuelle Trends und Modelle der Berufsbildung im internationalen Kontext sowie Kompetenzen im Bereich der Organisation und des Managements von Berufsbildungsprozessen.